Als NoG-Therapeutin in Chicago

06.11.2022 – Wir haben schon über Dr. Heike Goebel, die Gründerin des Vereins Naturheilpraxis ohne Grenzen e.V. (NoG), und den Verein an sich berichtet. Nun reiste Heike Goebel nach Chicago, um dort in zwei Organisationen für Menschen ohne Obdach zu arbeiten. Lesen Sie hier ihren spannenden Bericht.

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Im September dieses Jahres reiste ich nach Chicago. Bereits in Deutschland hatte ich mit zwei Initiativen Kontakt aufgenommen, die sich auf ganz unterschiedliche Weise für Menschen ohne Obdach einsetzen. Die eine Organisation heißt Revive Center und ist gerade mal vier Jahre alt. Die andere heißt Nigth Ministry und existiert schon seit 40 Jahren.

Primäres Ziel des Revive Centers ist es, Menschen dabei zu unterstützen, dass sie nicht wohnungslos werden bzw. wieder eine eigene Wohnung erhalten. Hierfür arbeiten im Revive Center sogenannte Case Manager (Sozialarbeiter*innen) und Ergotherapeut*innen. Die Case Manager unterstützen vor allem bei Behördenangelegenheiten. Die Ergotherapeut*innen dagegen helfen bei Alltagsangelegenheiten. Das können Begleitungen beim Einkaufen sein, bei der Hausarbeit helfen aber auch Gesundheitsberatungen. Das Revive Center verfügt über einen großen Aufenthaltsbereich vor allem für die Menschen, die bereits wohnungslos geworden sind. Hier können sie sich aufwärmen, Kaffee trinken, in einer kleinen Kochnische Essen kochen, Fernsehen schauen oder auch die Fitnessgeräte nutzen. Das Wichtigste sind jedoch die Gesprächsangebote und konkrete Beratungsangebote für Hilfen.

Da das Revive Center keine medizinische Einrichtung ist, schied ein klassisches Arbeiten als Heilpraktikerin für mich leider aus. Aber Entspannungsmassagen und kleine gesundheitliche Unterstützungen wie Meditaping konnte ich anbieten. Wie auch bei uns, ist das Thema Einsamkeit und fehlende Berührungen ein ganz großes und meiner Erfahrung nach auch ein ganz wichtiges, wenn es um seelische und körperliche Gesundheit von Menschen geht.

Und so war ich mächtig gespannt an meinem ersten Tag, wie die Klient*innen des Revive Centers mein Massageangebot annehmen würden. Es dauerte keine fünf Minuten und die erste Klientin freute sich auf eine Massage. Die Körper von Menschen ohne Obdach sind meist von den Strapazen des Lebens auf der Straße schwer gezeichnet. Die Haut ist oft sehr trocken und zieht das Massageöl begierig ein. Auch die Menschen selbst lechzen förmlich nach körperlicher Berührung. Nicht selten genießen sie jede einzelne Minute. Und das hatten auch direkt die anderen Klienten und Kolleg*innen des Revive Centers bemerkt. Das führte dazu, dass ein Klient nach dem anderen zu mir kam, um sich massieren und Tapen zu lassen. Sehr ähnlich zu unseren Patient*innen in Deutschland haben die meisten obdachlosen Patient*innen vor allem schmerzhafte Nackenverspannungen, denn ihnen sitzen Stress und Angst förmlich im Nacken. Hinzu kommen oft Schulter und Hüftschmerzen, vor allem wenn die Menschen auf hartem Untergrund und in der Kälte draußen schlafen. Nach der Massage freuten sich alle Patient*innen über die schönen farbigen Tapes. Bei allen obdachlosen Patient*innen habe ich mir inzwischen angewöhnt, auch einen Blick auf die Füße zu werfen. Meist sind sie den ganzen Tag unterwegs und laufen sehr lange Strecken. Das Schuhwerk ist nicht immer das geeignetste. Sehr oft ist die Haut an den Füßen sehr trocken und – vor allem zwischen den Zehen – schwarz vor Schmutz. Die Zehennägel sind manchmal unglaublich lang und sorgen zudem dazu, dass jeder Schritt schmerzt und Wunden entstehen können. Füße reinigen, Zehennägel kürzen und die Haut gut eincremen gehört für mich dazu.

Zierliche ältere Klientin

Besonders in Erinnerung geblieben ist mir eine ältere und sehr zierliche Klientin von fast 70 Jahren. Sie wünschte sich von mir eine Nackenmassage und das Kürzen ihrer Fußnägel. Obwohl sie bereits seit längerem obdachlos war und sogar Draußen schlief, legte sie viel Wert auf ihr Äußeres. Und so entdeckte ich, als ich ihr ihre Strümpfe vorsichtig auszog, sehr lange, aber pink lackierte Fußnägel. Ihre winzigen und dünnen Füße sahen so zerbrechlich aus, als sie in meiner Hand lagen, und gleichzeitig mussten sie den ganzen Tag laufen. Ganz sanft und mit viel Liebe habe ich ihre Füße massiert und sie schlief mir sofort ein. Mit Hilfe der Revive Center Kolleg*innen konnte für sie in der Zeit meines Aufenthaltes endlich ein Platz in einem Schelter für Frauen gefunden werden.

Klinikbus des Nigth Ministry

Da das Revive Center nur tagsüber geöffnet hat, hatte ich die Chance, abends noch bei der Organisation Nigth Ministry mitzuarbeiten. Das Nigth Ministry ist eine staatlich geförderte Einrichtung, so dass diese über umfassende Hilfsangebote für Menschen ohne Obdach verfügt. Einmalig ist das Nigth Ministry vor allem wegen seines umfangreichen medizinischen Programms für Menschen ohne Obdach.

So verfügt die Organisation über einen großen Klinikbus, der jeden Abend an zwei festgelegten Standorten in Chicago steht. Obdachlose Menschen aus dem Umfeld suchen das Hilfsangebot auf. Begleitet wird der Klinikbus immer von einem kleinen Van, in dem eine Crew, ausgestattet mit Essen, Getränken, Socken und Hygienematerialien, die Menschen mit dem Notwendigsten versorgt.

Das Nigth Ministry bietet darüber das Street Medicine Programm an, bei dem das medizinische Team in einem etwas größeren Van direkt zu den Menschen ohne Obdach fährt. In dem Programm wird das Erreichen der Klienten großgeschrieben. Und so liefen wir unzählige Strecken unter den Brücken, kletterten auf Höhe der Brückenkästen und suchten auch die angrenzenden Grünstreifen der Highways ab. Der Van fuhr immer hinterher, so dass wir Patient*innen auf kurzem Weg zum Auto einladen konnten, um sie mit Essen, Kleidung, Hygieneartikeln, ihrer Post und Medizin zu versorgen. Für mich war es das erste Mal, dass ich die Schlafplätze von Menschen ohne Obdach betrete, denn in Essen kommen ja unsere Patient*innen ohne Obdach zu unserem NaturheilMobil.

Ein weiteres berührendes Beispiel

Besonders berührt hat mich die Begegnung mit einer obdachlosen Dame, die in einem der Zelte wohnte. Sie reagierte sehr unwirsch und öffnete auch nicht ihr Zelt. Meine Kollegin machte freundlich darauf aufmerksam, dass diesmal Heike aus Deutschland dabei sei, die sich als Naturopath um Schmerzen kümmern würde. Die Dame hatte auch Schmerzen, allerdings hatte sie keine Hose zur Verfügung und wollte daher auch nicht das Zelt öffnen. Während die Kolleg*innen den Van nach einer passenden Hose durchsuchten, öffnete die Dame zumindest ein klein wenig den Reißverschluss ihres Zeltes und ich konnte ihr Gesicht sehen. Ich war erschrocken, dass es sich erneut um eine ältere zierliche Dame handelte. Während die Kolleg*innen nach erfolgreicher Suche eine halbwegs passende Hose in das Zelt reinreichen konnte, bot ich immer wieder an, mir einfach mal ihre schmerzenden Füße anzusehen und sie mit einer guten Creme zu versorgen. Die Kolleg*innen hatten sich auf den Van zurückgezogen und ließen uns die Zeit, die es brauchte. Nach bestimmt mehr als zehn Minuten nickte die Dame und öffnete langsam ihr Zelt. Für mich war dies ein ganz besonderer Moment des Vertrauens ihrerseits und gleichzeitig durfte ich einen Einblick in das Innerste ihres Wohnraums erhalten. Sie kam auch nicht raus, sondern ich durfte ein kleines Stückchen hineinkrabbeln, um an ihre Füße zu gelangen. Ein Hühnerauge machte ihr zu schaffen und auch die Nägel wiesen Fußpilzbefall auf. Sie waren aber geschnitten und die Haut war intakt und ohne Wunden. Ganz vorsichtig cremte ich ihre Füße ein und dann streckte sie mir ihre soeben geschenkten dicken Socken hin, damit ich ihr beim Anziehen helfe. Wann kommst du denn wieder, fragte sie und dann erzählte sie, dass die Nigthies die einzigen sind, die sie besuchen.

Jeden Abend fuhren wir die Stadtteile nach den bekannten Schlafplätzen ab und reagierten auf die Anrufe auf dem Handy des Night Ministry. Das ist sehr besonders, dass hier alle Menschen ohne Obdach von der Regierung mit Smartphones ausgestattet werden, so dass sie jederzeit Kontakt zu Hilfseinrichtungen aufnehmen können.

Wie ist diese umfangreiche aufsuchende Hilfe leistbar? Ein Großteil der Mitarbeiter*innen wird von der Regierung über Programme finanziert. Aber auch Spenden unterstützten die Arbeit. Die Ärzte hingegen arbeiten ehrenamtlich mit.

Mein dreiwöchiger Aufenthalt in Chicago verging wie im Flug. Ich habe viele neue Eindrücke gewinnen können und durfte berührende Erfahrungen mit Kolleg*innen und vor allem Menschen ohne Obdach machen. Dies wird sicherlich nicht mein einziger Aufenthalt in Chicago bleiben.

Dr. Heike Goebel

Einen ausführlicheren Bericht von Dr. Heike Goebel über ihre Zeit in Chicago können Sie in der Ausgabe 8/2022 der Deutschen Heilpraktiker Zeitschrift (DHZ) lesen.

Klinikbus Nigth Ministry