Jeder zweite ältere Mensch erhält potenziell unangemessene Medikamente

18.09.2023 - 8,3 Millionen ältere Menschen in Deutschland haben 2022 mindestens einmal ein potenziell inadäquates Medikament (PIM) verordnet bekommen, das zu unerwünschten Wechsel- oder Nebenwirkungen führen kann. Das zeigt eine aktuelle Analyse des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO). Damit war mehr als jeder zweite Mensch ab 65 Jahren (50,3 Prozent) davon betroffen.

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Grundlage der Auswertung sind die an die 16,4 Millionen älteren GKV-Versicherten verordneten Arzneimittel, die auf der PRICUS-2.0-Liste verzeichnet sind. Im Jahr 2022 ist eine aktualisierte PRISCUS-2.0-Liste von potenziell ungeeigneten Arzneimitteln für ältere Menschen ab 65 Jahren veröffentlicht worden. Anhand dieser Liste und auf Grundlage der alters- und geschlechtsadjustiert hochgerechneten Arzneiverordnungen für über 65-jährige GKV-Versicherte im Jahr 2022 ermittelte das WIdO, dass immerhin 12,3 Prozent aller an ältere Menschen verordneten Tagesdosen potenziell ungeeignet sind. Mit 50,3 Prozent ist damit mehr als jede zweite ältere GKV-versicherte Person davon betroffen. Bei Frauen ist der Anteil der potenziell inadäquaten Medikation laut der Auswertung deutlich höher als bei Männern.

„Die Arzneimittelversorgung der über 65-Jährigen ist geprägt durch die steigende Zahl der Erkrankungen im Alter und die Behandlung mehrerer, parallel vorliegender Krankheiten“, sagt WIdO-Geschäftsführer Helmut Schröder. Die Anzahl der gleichzeitig verordneten Arzneimittel nehme mit steigendem Alter deutlich zu. Insgesamt entfielen im Jahr 2022 auf die gesetzlich Krankenversicherten (GKV) ab 65 Jahre 56 Prozent des gesamten GKV-Verordnungsvolumens nach Tagesdosen. 43 Prozent der Versicherten über 65 Jahre wurden mit mehr als fünf verschiedenen Wirkstoffen gleichzeitig behandelt. Ältere Patientinnen und Patienten seien damit besonders gefährdet, unerwünschte Arzneimittelereignisse zu erleiden. Medikamentennebenwirkungen wie Müdigkeit, Blutdruckabfall oder Sehstörungen können zu Stürzen oder kognitiven Einbußen führen und in manchen Fällen sogar lebensbedrohlich sein. Erfreulich sei daher, dass der Verordnungsanteil der potenziell inadäquaten Medikation (PIM) in den vergangenen zehn Jahren zurückgegangen ist: Hatte der Verordnungsanteil dieser Arzneimittel bei älteren Menschen im Jahr 2013 noch bei 14,6 Prozent gelegen, so lag er 2022 bei 12,3 Prozent.

Eine Auswertung nach Regionen zeigt allerdings deutliche Unterschiede in den Verordnungsraten von PIM-Arzneimitteln: Die geringsten PIM-Anteile werden mit 48,2 Prozent bei der Kassenärztlichen Vereinigung Bremen erreicht. „Die Spannbreite von 6,6 Prozentpunkten gibt einen Hinweis darauf, dass es in vielen KV-Regionen noch Verbesserungspotenzial gibt“, so Helmut Schröder.

Um den Wissenstransfer in die Praxis zu fördern, hat das WIdO eine kompakte Zusammenfassung der PRISCUS-2.0-Wirkstoffe als Arbeitshilfe für Ärztinnen und Ärzte erstellt. Sie steht im Gesundheitspartner-Portal der AOK zum Download (aok.de/gp/priscus) zur Verfügung. Schröder verwies zudem auf die kostenlose Bereitstellung der kompletten PRISCUS-2.0-Liste durch das WIdO und eine aktuelle Patienteninformation des Bundesministeriums für Bildung und Forschung zum Thema.

Mehr als die Hälfte der Verordnungen potenziell unangemessener Medikamente bezieht sich auf Magenschutzpräparate, die sogenannten Protonenpumpeninhibitoren. Diese seien diejenigen Medikamente, die am häufigsten nach kritischer Indikationsstellung abgesetzt werden könnten.

Ebenfalls zu den häufig verordneten potenziell unangemessenen Medikamenten zählen einige Wirkstoffe gegen Schmerzen, Antidepressiva und Medikamente bei Blasen- und Prostatabeschwerden.

Hintergrundinformationen

Mann NK, Mathes T, Sönnichsen A, Pieper D, Klager E, Moussa M, Thürmann PA. Potentially inadequate medications in the elderly: PRISCUS 2.0 – first update of the PRISCUS list. Dtsch Arztebl Int  2023; 120: 3–10. DOI: 10.3238/arztebl.m2022.0377

Thürmann P, Mann N-K, Zawinell A, Niepraschk-von-Dollen K, Schröder H. Potenziell inadäquate Medikation für ältere Menschen – PRISCUS 2.0. In: Schröder H, Thürmann P., Telschow C., Schröder M., Busse R. (Hrsg.): Arzneimittel-Kompass 2022. Qualität der Arzneimittelversorgung. Springer Verlag, Berlin Heidelberg. (Open Access verfügbar unter: www.wido.de/publikationen-produkte/buchreihen/arzneimittel-kompass/2022/)

Ausführliche Informationen unter: https://www.priscus2-0.de