Neue europäische Blutdruckleitlinie setzt 140/90 mmHg als „rote Linie“

26.06.2023 - Die neue Bluthochdruckleitlinie der „European Society of Hypertension“ überrascht durch einen pragmatischen Ansatz im Hinblick auf die Zielwerte: 140/90 mmHg ist die „rote Linie“, die Werte jedes/r Betroffenen sollten also darunter liegen. Wer es verträgt, sollte noch tiefer eingestellt werden, wer nicht, muss es aber nicht. Neben zahlreichen Empfehlungen wurden in die Leitlinie zwei neue aufgenommen: eine kaliumreiche Kost und Antistresstraining.

© Photographee.eu - AdobeStock.com

Die wichtigsten Neuerungen umfassen neben einer vereinfachten Zielwertdefinition, eine verbesserte Bluthochdruckklassifikation, basierend auf dem Grad der vorliegenden hochdruckbedingten Organschädigungen, und neue Risikofaktoren, darunter unter anderem Schlafstörungen, Migräne, Depression, Luftverschmutzung, Migrationshintergrund sowie die geschlechtsangleichende Hormontherapie bei transsexuellen Menschen. Außerdem führt sie Maßnahmen für einen blutdruckgesunden Lebensstil an.

Bluthochdruck ist eine der häufigsten Erkrankungen überhaupt. Die Rate der Betroffenen beträgt derzeit in Deutschland 31,8 Prozent. Das bedeutet: Nahezu jede/r Dritte hat zu hohe Blutdruckwerte – und die sollten nicht auf die leichte Schulter genommen werden, denn sie können schwere Gesundheitsschäden beziehungsweise -probleme verursachen. Unbehandelt führt Bluthochdruck zu Folgeschäden an den Organen, den Gefäßen, dem Herz oder den Nieren. Zu hohe Blutdruckwerte können sogar ein Treiber für Demenz sein. Bluthochdruck ist also nicht nur sehr häufig, sondern auch sehr gefährlich.

Daher ist es äußerst wichtig, hohen Blutdruck frühzeitig zu erkennen und zu behandeln. Doch auf welchen Zielwert hin? Bisher war die Beantwortung dieser Frage komplex, es galten verschiedene Werte für verschiedene Patientengruppen. Die neue europäische Blutdruckleitlinie gibt hier nun einen pragmatischen Anhaltspunkt: 140/90 mmHg ist gut, aber Werte weiter darunter wären noch besser (der Blutdruck sollte allerdings nicht unter 120/80 mmHg abgesenkt werden). Die neue Leitlinie zementiert also 140/90 mmHg als „rote Linie“ bei erwachsenen Menschen. Ab diesem Wert muss zwingend eine medikamentöse Blutdrucksenkung erfolgen und mit Hilfe der Blutdrucksenker sollte jede Patientin/jeder Patient diesen Wert unterschreiten.

„Wenn Betroffene Blutdruckwerte unter 140/90 mmHg erreichen, ist ihr Risiko für eine Folgeerkrankung bereits deutlich gesenkt, allerdings haben verschiedene Studien gezeigt, dass das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen bei einer weiteren Absenkung dann noch etwas geringer ist“, erklärt Prof. Markus van der Giet, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Hochdruckliga. Warum wurden dann nicht die Zielwerte in der neuen Leitlinie kurzerhand gesenkt? „Die neue ESH-Leitlinie spiegelt hier die Behandlungsrealität wider. Denn für eine tiefere Senkung sind oft höhere Dosen oder mehr Medikamente nötig, die wiederum zu Nebenwirkungen führen können. Diese führen dann dazu, dass die Patientinnen und Patienten die Medikamente oft gar nicht mehr einnehmen – und damit ist am Ende niemandem geholfen. Daher begrüßen wir dieses pragmatische Konzept, jeden auf Werte unter 140/90 mmHg einzustellen – und die, die es vertragen, auch etwas darunter.“

Lebensstil kann zum Erfolg beitragen

Wer die blutdrucksenkenden Medikamente schlecht toleriert und diese daher nicht für eine weitere Blutdruckabsenkung höher dosiert werden können, sollte versuchen, durch begleitende Lebensstilmaßnahmen eine weitere Absenkung zu erreichen, rät der Experte. „Gewichtsabnahme, gesunde Ernährung, ausreichend Bewegung und Stressreduktion führen zu nennenswerten Effekten bei der Blutdrucksenkung, die sich auch addieren“, motiviert Prof. van der Giet. „Wir raten natürlich allen Betroffenen zu diesen Maßnahmen, besonders aber jenen, bei denen die medikamentöse Therapie nicht wie gewünscht anschlägt bzw. nicht nach Bedarf hochdosiert werden kann.“ Grundsätzlich sollte aber keiner Sorge vor der medikamentösen Therapie haben: Nebenwirkungen treten verhältnismäßig selten auf und es gibt viele verschiedene blutdrucksenkende Medikamente, so dass für die meisten Betroffenen eine Behandlungsoption gefunden werden kann.

Antistresstraining und kaliumreiche Ernährung

Die neue europäische Leitlinie empfiehlt auch zwei neue Maßnahmen für einen blutdruckgesunden Lebensstil: Zum einen werden erstmals Antistresstrainings wie Yoga und autogenes Training empfohlen, zum anderen gibt sie einen neuen, konkreten Ernährungstipp. In der Leitlinie wird zu einer salzarmen, aber kaliumreichen Kost geraten, da Kalium eine blutdrucksenkende Wirkung hat. Es ist in Obst und Gemüse enthalten, die neue Leitlinie rät daher, vier bis fünf Portionen davon am Tag zu essen. „Werden nicht-medikamentöse Maßnahmen und die Einnahme von Blutdrucksenkern kombiniert, sind für die meisten Betroffenen Werte unter 140/90 mmHg – und auch deutlich darunter – gut zu erreichen“, so lautet das Fazit des Experten.

Bluthochdruck-Stadien erweitert

Die Bluthochdruckdefinition wurde jetzt zudem systematisch um Stadien erweitert. Bei Bluthochdruck Stadium 1 handelt es sich um eine unkomplizierte Bluthochdruckerkrankung, die noch nicht zu Schäden an den Organen geführt hat. Das Stadium 2 liegt vor, wenn bereits leichte Schädigungen der Organe durch Bluthochdruck erkennbar sind, z. B. eine noch nicht sehr weit fortgeschrittene chronische Nierenerkrankung, oder wenn begleitend zum Bluthochdruck ein Diabetes mellitus kommt. Bei Stadium 3 liegen bluthochdruckassoziierte Herz- oder Gefäßkrankheiten oder eine fortgeschrittene chronische Nierenkrankheit vor. „Diese Stadieneinteilung gab es auch schon vorher, war aber bisher in den Risikokalkulatoren versteckt zu finden. Sie ist bedeutsam, da sie das Risiko eines unbehandelten Bluthochdrucks klar vor Augen führt und auch die besondere Schwere bei bereits eingetretenen Endorganschäden darstellt. Noch immer ist vielen Menschen nicht klar, dass es sich bei Bluthochdruck um eine ernsthafte Erkrankung mit schweren Spätfolgen handelt. Durch die Herausstellung der Klassifikation wurde dies jetzt deutlich sichtbarer gemacht“, erklärt Prof. van der Giet. „Wir hoffen, dass dadurch mehr Menschen für die Erkrankung sensibilisiert werden und die Möglichkeiten zur Verbeugung – und bei Bedarf auch die Therapie – ernst nehmen, um den Beginn und das Fortschreiten von Bluthochdruck zu verhindern.“

Schlafstörungen, Migräne und Depression als Risikofaktoren

Neben diesen beiden wichtigen Kernneuerungen hält die Leitlinie auch Überraschendes im Hinblick auf Risikofaktoren und Komorbiditäten bereit. Erstmals wurden in der Leitlinie auch Schlafstörungen, Migräne und Depression als Risikofaktoren für Bluthochdruck genannt. Bei Menschen mit diesen Krankheiten sollte regelmäßig eine Früherkennungsuntersuchung von Bluthochdruck erfolgen. Auch Luftverschmutzung und Migrationshintergrund werden als Risikofaktoren diskutiert, ebenso wie die geschlechtsangleichende Hormontherapie bei transsexuellen Menschen. Zudem werden Geschlechterunterschiede bei der Bluthochdruckpathophysiologie und -epidemiologie als neues Thema aufgenommen.

Originalpublikation

The Task Force for the management of arterial hypertension of the European Society of Hypertension Endorsed by the European Renal Association (ERA) and the International Society of Hypertension (ISH). ESH Guidelines for the management of arterial hypertension. J Hypertens. 2023 Jun 21. doi: 10.1097/HJH.0000000000003480. Epub ahead of print. PMID: 37345492.

Quelle Mitteilungen der Deutschen Hochdruckliga, Juni 2023